Narkosezwischenfall bei angeblich harmloser Tympanoplastik (update)

Meine Mandantin ist eine gesetzliche Krankenversicherung, die mich im Rahmen des § 116 Sozialgesetzbuch X mit einem äußerst tragischen, rechtlich und rechtspolitisch jedoch interessanten Fall mandatiert hatte. Dabei ging es um folgenden Sachverhalt:

Ein Versicherter meiner Mandantin, welcher im September 2005 kurz vor seinem 18. Geburtstag stand, wollte sich wegen einer seit Jahren bestehenden rezidivierenden Otorrhoe einer Tympanoplastik in Intubationsnarkose unterziehen. Zu diesem Zweck wurden Vorgespräche durchgeführt, in denen die Operation und auch die Anästhesie erläutert wurden. In keinem dieser Gespräche erwähnte man das in dem Klinikum installierte sog. Mafa-Projekt. Hierbei handelt es sich um die Einführung der sog. „Schwesternnarkose“ durch einen „Medizinischen Assistenten für Anästhesie“. Im Oktober 2005 fand das eigentliche Aufklärungsgespräch in Bezug auf die Allgemeinanästhesie statt. Im Nachhinein tauchten zwei schriftliche Versionen des Patientenaufklärungsbogens auf. Auf der zweiten Version wurden im Nachhinein unter der Rubrik „Ärztliche Anmerkungen zum Aufklärungsgespräch“ die Zusätze Rhythmusstörung – Schock, Kreislaufstillstand aufgenommen. Während des Gesprächs erfolgte ebenfalls kein Hinweis auf den beabsichtigten Einsatz eines Mafas. Ebensowenig fand das Verfahren der sog. kontrollierten Hypotension (kontrollierte Blutdrucksenkung) Erwähnung. Im Oktober 2005 fand der operative Eingriff statt. In dem Operationsbericht der HNO-Operateurin ist u. a. nachzulesen, dass die gesamte Operation durch eine stärkere, wenig beeinflussbare diffuse Blutung aus der Schleimhaut erschwert worden sei. Während einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung gab diese Operateurin an, dass in dem zu operierenden Ohr des Patienten eine Blutung aufgetreten war, welche sie im Vergleich zu anderen Patienten mit derselben Erkrankung als etwas stärker einstufte. Sie habe deshalb „die Anästhesie gebeten“, nach Möglichkeiten zu suchen, diese Blutung zu mindern. An dieser Aussage ist bemerkenswert, dass die Operateurin die narkoseführende Person nicht genau benennen konnte. Handelte es sich um einen Facharzt für Anästhesie oder um einen Krankenpfleger?

Zwischen den Parteien des Rechtsstreits war es streitig, wer zu welchen Zeiten die Narkose bei dem Versicherten meiner Mandantin führte. Lediglich unstreitig war, dass auch ein Mafa mit bei der Narkose beteiligt war. Der konkret zum Einsatz gebrachte Krankenpfleger hatte erst im zweiten Anlauf die krankenhausinterne Ausbildung zum Mafa geschafft und auch gerade erst im Herbst 2005 beendet.

Weiterhin war zwischen den Parteien des Rechtsstreits streitig, welche Medikamente in welcher Dosierung dem Versicherten der Klägerin während der Narkose verabreicht wurden. Anhand der unstreitigen Medikation kamen medizinische Sachverständige jedoch zu dem Urteil, dass es sich um einen nicht lege artis erfolgten „Medikamentenmix“ mit teilweiser erheblicher Überdosierung handelte.

Am Operationstag begann man um 12.25 Uhr mit der Ausleitung der Narkose. Um 12.31 Uhr wurde bei funktionell komplettem Kreislaufstillstand mit einer externen Herzmassage bei dem jungen Patienten begonnen. Parallel dazu leitete man die pharmakologische Reanimation ein, allerdings stellte sich erst ab 12.40 Uhr wieder ein suffizienter Spontankreislauf mit initial hyperton-tachykarden Parametern ein. Aufgrund dieser intraoperativ eingetretenen Asystolie mit verzögerter Reanimationsphase trat ein hypoxischer Hirnschaden bei dem jungen Patienten auf. Er leidet seitdem unter einem Post-Herzstillstand-Syndrom und bedarf ständiger Beaufsichtigung und Pflege.

Im Rahmen eines beim Landgericht Erfurt anhängigen Rechtsstreits habe ich für meine Mandantin eine fehlerhafte Behandlung des jungen Patienten gerügt, insbesondere eine grob fehlerhafte Narkoseführung und -medikation. Insbesondere aber habe ich ein Organisationsverschulden geltend gemacht, weil wesentliche Zeiten der Narkose nicht von einem Facharzt für Anästhesie geleitet wurden. Eine Narkose in Blutdrucksenkung wird in der medizinischen Literatur als besonders gefahrenträchtig angesehen, weil bei dieser kontrollierten Hypotension Tod, Herzstillstände, Schlaganfälle, schwerste Hirnschädigungen, Querschnittslähmungen, Blindheit, Demenz und Veränderungen der Persönlichkeit als Komplikationen beschrieben sind.

Der Operateur, der die Indikation für die Blutdrucksenkung stellt, muss die Verantwortung dafür übernehmen, dass bei der Risikoabwägung um die Blutdrucksenkung die Für- und Widerargumente deutlich gegeneinander abgewogen werden und in diese Risikoabwägung der Facharzt für Anästhesie als „the most experienced“ eingebunden ist.

Im vorliegenden Fall hatte die Operateurin allerdings nicht einmal wahrgenommen, wer ihr intraoperativer Partner auf Narkoseseite war. Erschwerend kam hinzu, dass das Verfahren der kontrollierten Hypotension von vielen spezialisierten Zentren als mittlerweile obsolet betrachtet wird, weil sich keine exakte Grenze, bis zu der der Blutdruck abgesenkt werden könnte, ohne dass eine Gefahr für Funktion und Überleben der Zellen des Herzens und des Gehirns bestünde, festgelegt werden kann. Einem medizinischen Privatgutachten, welches meine Mandantin zu diesem Sachverhalt einholte, ist als Kernaussage zu entnehmen:

Unter Anästhesieführung ist ein nicht im Vorhinein geplant festzulegender Prozess zu verstehen, der eine kontinuierliche Stellung und Überprüfung von Diagnosen voraussetzt und eine Therapie unter Abwägung medizinischer Risiken bedeutet.

Genau dies ist eine fachärztliche Aufgabe, die nicht auf einen Mafa delegierbar ist. Angesichts des lebensgefährdenden Medikamentenmixes rügte ich ebenfalls, dass es sich bei der Narkose gar nicht um eine kontrollierte Blutdrucksenkung, sondern um eine unkontrollierte Hypotension handelte.

Bereits ein Jahr vor dem streitgegenständlichen Eingriff wurde während einer Leitungssitzung des verklagten Krankenhauses bemängelt, dass ein absoluter Facharztmangel herrsche. Viele der eingesetzten Assistenten fühlten sich bei den anfallenden Narkosen überlastet. Es wurde außerdem bemerkt, dass eine auffällige Zunahme von Reanimationen im elektiven Tagesprogramm zu verzeichnen war, was alle beunruhigte. Dessen ungeachtet ließ der verantwortliche Chefarzt für Anästhesie sich dahingehend ein, dass er die Ausbildung der Mafas trotzdem weiterführen und die ausgebildeten Kräfte auch in die sog. „anaesthesia teams“ integrieren werde. Nach Auffassung jenes Chefarztes müsse sich die optimale Form der Organisation in den kommenden Monaten und Jahren noch herausstellen, gleichsam durch learning by doing. Erst nach diesem dramatischen Zwischenfall und auch erst auf nachdrückliche Kritik seitens der Fachpresse und medizinischen Fachgesellschaften ließen die Geschäftsführer des Klinikums verlautbaren, dass ab jenem Zeitpunkt (März 2007) der Einsatz der Mafas ausschließlich unter Beachtung und im Rahmen der als verbindlich anerkannten Grundsätze der Fachgesellschaften oder Berufsverbände erfolgen darf.

Äußerst befremdlich erscheint es mir, dass es erst zu einem solch dramatischen Narkosezwischenfall wie in dem von mir betreuten Rechtsstreit kommen musste, in dessen Folge ein junger und lebenskräftiger Mensch für den Rest seines Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein wird, bevor Änderungen eingeleitet werden.

Einem Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 18.01.2006 (ZMGR 5/06, 154 ff.) ist zu entnehmen, dass ein OP-Programm so zu gestalten ist, dass Parallelanästhesien vermieden werden. Anderenfalls müsse der Anästhesist für die zweite parallel zu erbringende Anästhesie einen zweiten, die Anästhesie überwachenden Arzt hinzuziehen. Wörtlich ist in dem Urteil nachzulesen, dass die vom dortigen Kläger dargestellte Handhabung nicht den Leistungsinhalt der EBM-Ziffern 462, 463 erfülle und nach dem Dafürhalten des Gerichts auch aus medizinischer Sicht inakzeptabel sei. Für die Anfängeroperation ist entschieden, dass – solange irgendwelche Zweifel an dem erforderlichen Ausbildungsstand des Anfängers bestehen – die Operation von einem Facharzt, der stets anwesend ist, überwacht werden muss (BGH NJW 1984, 655 ff.).

Entgegen diesem scheinbar engen Wortlaut hat sich der Bundesgerichtshof hierbei aber nicht nur auf die Anfängeroperation beschränkt, sondern auch nachfolgende Feststellung allgemeinerer Art getroffen: „Denn die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ein Misslingen der Operation oder eine eingetretene Komplikation nicht auf mangelnde Erfahrung und Übung des nicht ausreichend qualifizierten Operateurs beruht, tragen der Krankenhausträger und die für die Übertragung der Operation verantwortlichen Ärzte.“ (BGH, a.a.O). Meines Erachtens gelten diese, für einen nicht hinreichend qualifizierten Arzt aufgestellten Grundsätze erst recht für den Einsatz von nichtärztlichem Hilfspersonal.

In dem genannten Urteil des Bundesgerichtshofs heißt es weiterhin, dass der Senat es auch im Fall der Gesundheitsschädigung des Patienten bei Behandlung durch einen nicht ausreichend qualifizierten Arzt für gerechtfertigt hält, die im Allgemeinen dem Geschädigten obliegende Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang auf den Schädiger zu verlagern.

Nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 11.07.1977 (AHRS I Nr. 0495/10) haftet der Krankenhausträger bereits ohne Entlastungsmöglichkeit für einen Narkoseschaden, den ein als Anästhesist eingesetzter unbeaufsichtigter Medizinalassistent verursacht.

Dies folgt auch aus dem bereits zitierten Urteil des Bundesgerichtshofs (NJW 1984, 655 ff.), dass nämlich das Risiko einer sog. Anfängeroperation, welches Krankenhausträger und ausbildende Ärzte setzen und welches geeignet ist, den Schaden beim Patienten zu verursachen, für diese voll beherrschbar ist.

Nach Klageeinreichung für die gesetzliche Krankenversicherung im Juli 2009 kam es zum streitigen gerichtlichen Schriftwechsel zwischen den Parteien des Rechtsstreits, wobei auf Wunsch der Beklagten im Oktober 2010 Vergleichsverhandlungen aufgenommen wurden. Während das gerichtliche Verfahren ruhte, einigte ich mich mit dem gegnerischen Prozessbevollmächtigten auf eine Abfindungssumme von knapp unter € 1.000.000,-.

Im Januar 2011 beschloss das Landgericht Erfurt im Wege eines nach § 278 VI Zivilprozessordnung protokollierten Vergleichs, dass meine Mandantin besagte Abfindungssumme zur Abgeltung sämtlicher Ansprüche erhält. Der Rechtsstreit konnte damit einvernehmlich beendet werden (LG Erfurt 10 O 964/09).

(Update 17.07.2012: verwandte Presseartikel hinzugefügt)