Tödliche Keime

So krank macht das Krankenhaus

Jährlich sterben in deutschen Kliniken Tausende Patienten an gefährlichen Erregern. Schuld sind die hygienischen Bedingungen. Weil aber immer mehr Bakterien immun gegen Medikamente werden, ist der Kampf gegen sie schwierig. Um das Problem in den Griff zu bekommen, muss unser System von Grund auf geändert werden.

Von Dr. Pia Heinemann

Marianne Becker (Name von der Redaktion geändert), 55, steht an einem grauen Spind im Büro einer Berliner Tankstelle. Der kleine Raum ist schlecht beleuchtet. Oben, im Regal über dem Schreibtisch, vierteln schwarz-weiße Kamerabilder den Überwachungsmonitor. Ein Golf rollt langsam an die Zapfsäule. Marianne Becker schaut auf, ihr Mann steht hinter der Kasse, er wird sich kümmern. Sie greift zu einem grauen Aktenordner, hebt ihn aus dem Spind, legt ihn auf den Schreibtisch. Blass sieht sie aus, müde. Nein, Marianne Becker geht es heute nicht so gut. Seit ziemlich genau vier Jahren geht es ihr nicht gut. Dabei sah damals alles ganz harmlos aus. Niemand konnte wissen, dass ihr Leben aus den Fugen geraten würde.

„Am 2. August 2007, es war ein Donnerstag, ging ich wie geplant morgens zu einer Gallen- Operation ins Krankenhaus.“ Der Eingriff war nichts Großes: vier kleine Schnitte, höchstens zwei Tage Krankenhaus. „Ich war froh, dass ich einen Termin vor dem Wochenende bekommen hatte“, erinnert sie sich. Schon am Montag wollte sie wieder arbeiten gehen. Marianne Becker ist resolut, zupackend. Schmerzen ignoriert sie, solange es geht. Die Gallenblase musste raus, gut, dann aber bitte möglichst schnell und unkompliziert. Rein ins Krankenhaus, raus aus dem Krankenhaus und weiter im Takt. Das war der Plan. Doch daraus wurde nichts. Donnerstag, acht Uhr morgens im Krankenhaus. Ärzte und Schwestern waren professionell freundlich, um elf Uhr ging es zur OP. Wenige Stunden später wachte Marianne Becker auf, war froh, dass scheinbar alles nach Plan gelaufen war. Ein dickes Pflaster klebte auf ihrem Bauch. Sie war noch wacklig auf den Beinen. Aber am Samstag durfte sie nach Hause, zu ihrer Familie, zu ihrem Hund, und bald zu ihrer Tankstelle.

 „Am folgenden Montag ging es dann rund“, erzählt Becker. „Nachmittags bekam ich Schüttelfrost und Fieber. Ich hatte furchtbare Schmerzen, ich dachte, mein Bauch platzt.“ Um zehn Uhr abends rief ihr Mann den Notarzt. Der drückte ein wenig auf ihrem Bauch herum, fand aber nichts: „Vielleicht haben sie etwas Schlechtes gegessen?“ Der Arzt fuhr weg. Ein paar Stunden später hielt Marianne Becker die Schmerzen nicht mehr aus. Sie legte sich im Wohnzimmer über den Tisch, redete wirr. „‚Jetzt sterbe ich also!‘, dachte ich damals.“

Ihr Mann und die Kinder fuhren sie zur Notaufnahme in ein anderes Krankenhaus. Der Bauchraum war voller Eiter. Bakterien hatten in der Operationswunde zu einer Entzündung geführt. Rasend schnell hatten sie sich vermehrt, das Immunsystem von Marianne Becker wurde mit den Eindringlingen nicht mehr fertig. Die Ärzte mussten sofort handeln, Notoperation, Bauchschnitt, 20 Zentimeter längs. Eine Operation in letzter Minute, sagten die Ärzte. Marianne Becker kam auf die Intensivstation.

Sie zieht drei Seiten aus einem Aktenordner. „Hier, lesen Sie doch selbst, da habe ich alles aufgeschrieben.“ Sie blättert ein wenig, blickt im schummrigen Tankstellenbüro wieder zum Monitor. „Mir wurde erzählt, dass es eine schwierige OP war, ich habe tagelang auf der Intensivstation gelegen. Nach ein paar Tagen wurden die Schläuche und Beutel aus meinem Bauch entfernt und nach und nach auch die Kanülen aus Hals und Armen, auch die Sauerstoffzufuhr durch die Nase“, steht da, und: „Es ging mir körperlich und seelisch richtig schlecht.“

Nach drei Wochen wurde sie aus der Klinik entlassen. Die Wunde eiterte, wollte nicht verheilen. Zwei Monate später, am 8. Oktober, schreibt Becker in ihren Notizen: „Die Wundöffnung ist nur noch klein, und ich hoffe, dass es aufwärtsgeht und ich wieder gesund bin.“ Immerhin: Marianne Beckers Wunde ist verheilt, ihr Bauch eitert nicht mehr. „Bücken oder Kästen schleppen kann ich aber noch nicht“, sagt sie jetzt, vier Jahre später. „Und mein Bauch ist eine einzige Narbe. Ansehen mag ich ihn mir nicht mehr.“ Warum Marianne Becker in diese lebensbedrohliche Situation geraten konnte, ist offiziell noch nicht geklärt. „Von Infektionen, die man sich im Krankenhaus einfängt, hatte ich damals vielleicht schon gehört“, sagt Becker. „Aber ich hatte keine Sekunde daran gedacht, dass mir so etwas jemals passieren könnte.“

Bakterien und andere Erreger gehören zum Leben dazu. Ohne sie könnte niemand leben. Unser Immunsystem sorgt dafür, dass sie uns nicht schaden. Werden wir doch einmal krank, helfen Antibiotika. Doch manche Keime haben gelernt, den Angriff dieser Mittel zu überleben. Kranke, geschwächte Menschen können sie töten. Und besonders viele dieser gefährlichen Erreger leben in deutschen Kliniken.

Den meisten Deutschen wurde dies erst im Sommer vor einem Jahr klar. Damals erkrankten Babys auf der Säuglingsstation des Uniklinikums Mainz. Drei von ihnen starben. Die Ursache war unklar, fieberhaft wurde gesucht. Wahrscheinlich war es ein unglücklicher Zufall, denn möglicherweise gelangten durch einen Haarriss Bakterien in eine Infusionsflasche. Die Babys bekamen die Flüssigkeit. Ihr Immunsystem konnte die Erreger nicht bekämpfen. Sie starben.

Ein öffentlichkeitswirksamer Fall, der eine neue Debatte über Krankenhauskeime auslöste. Auch Politiker forderten eine Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes, obwohl es bei den Mainzer Babys gar nicht um das ging, was im Fachjargon „nosokomiale Infektionen“ genannt wird. Das Wort stammt aus dem Griechischen. „Nósos“ bedeutet Krankheit und „komein“ pflegen. Krankenhauskeime haben nämlich – anders als die Mainzer Bakterien – die Eigenart, dass man ihrer mit Antibiotika nicht Herr wird. Jedes Jahr erkranken in Deutschland 600 000 bis 800 000 Menschen an solchen Krankenhaus-Infektionen. Experten vermuten, dass es sogar bis zu eine Million Patienten sind, die in der Klinik nicht gesund werden, sondern krank. Die Todesrate ist hoch. 15 000, vielleicht sogar 30 000 Patienten sterben an diesen Infektionen pro Jahr.

Warum gerade in Kliniken Infektionen auftreten, ist schnell erklärt: Hier kommen viele Menschen hin, jeder schleppt Bakterien, Pilze und Einzeller mit sich herum, ganz natürlich, ohne dass sie Schaden anrichten. Gerät ein solcher Erreger aber in eine Wunde, kann er gefährlich werden. Genauso, wenn Keime durch Krankenschwestern, Besucher oder Ärzte von einem Patienten zum nächsten getragen werden. Dann kann es bei diesem zweiten Patienten zu einer Infektion kommen. Vielleicht, weil dessen Immunsystem geschwächt ist. Vielleicht aber auch, weil es sich um einen gefährlichen Keim handelt.

Die bekanntesten Krankenhauskeime sind Bakterien der Art Staphylococcus aureus, die gegen Antibiotika wie Methicillin resistent geworden sind. Im Jargon der Fachleute werden sie MRSA genannt, Methicillin- resistente Staphylococcus aureus. MRSA sind mittlerweile einigermaßen leicht nachzuweisen. Ihr Aufkommen als Ursache einer Blutvergiftung muss gemeldet werden. Deshalb existieren vergleichbare Zahlen. In Großbritannien, Spanien und Italien sind über 25 Prozent aller Staphylococcus-aureus-Bakterien resistent, in Deutschland über 20 Prozent – aber in den Niederlanden, Dänemark und Finnland sind es weniger als ein Prozent. Der Grund für diese ungleiche Resistenzverteilung liegt vor allem darin, dass in den verschiedenen Ländern Antibiotika sehr unterschiedlich eingesetzt werden. So erklärt es Alexander W. Friedrich, Leiter der Abteilung für Mikrobiologie und Krankenhaushygiene des Universitätsklinikums Groningen und Koordinator des deutschniederländischen Netzwerkes zur Verbesserung der Patientensicherheit und des Infektionsschutzes. Friedrich ist einer der wichtigsten Experten für MRSA. „Staphylococcen können resistent gegen Antibiotika werden, wenn sie häufig mit den eigentlich für sie tödlichen Antibiotika in Kontakt kommen. Ein Teil von ihnen stirbt dann – aber einige überleben immer“, erklärt er. Werden Antibiotika eingesetzt, ohne dass wirklich eine bakterielle Infektion vorliegt, setzen sich die resistenten Erreger auf der Haut und Schleimhaut gegen die normale Hautflora durch. „Zusätzlich können die resistenten Bakterien vor allem zwischen Patienten, die Antibiotika bekommen, leicht ausgetauscht werden. Eine mangelnde Händehygiene des Personals begünstigt dies.“

Generell gibt es drei verschiedene Gruppen von MRSA-Keimen. Die einen treten bei Tieren, vor allem in Ställen und Herden auf. Hier stehen die Tiere eng beieinanderstehen, Keime können leicht von einem zum nächsten gelangen. „In den Niederlanden treten diese tierassoziierten MRSA relativ häufig auf“, sagt Friedrich. Das liege am großzügigen Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung. „Hier sehe ich schon ein Problem auf uns zukommen – denn diese MRSA-Keime können vom Tier auf den Menschen übergehen.“ Die zweite Art der MRSA-Keime sind die community- MRSA, die beim Menschen auftreten, sehr aggressiv sind und auch Gesunde krank machen können. „Zum Glück sind diese aggressiven MRSA nicht sonderlich häufig“, erklärt der Experte. Nur rund zwei Prozent aller MRSA gehören in Deutschland zu dieser aggressiven Sorte. Und dann gibt es noch die dritte MRSA-Art, die bisher vor allem in Deutschland auftritt: die Krankenhaus-MRSA. Diese Keime leben im Nasen- Rachen-Raum eines Patienten. Er bringt sie mit in die Klinik, ist vielleicht nur kurze Zeit dort, hat ein paar Mal genießt – und schon wandern sie über das Klinikpersonal zu anderen Patienten weiter. „Sie kommen in Deutschland so häufig vor, weil Ärzte Antibiotika noch immer viel zu häufig ohne den mikrobiologischen Beweis verschreiben, dass diese Antibiotika notwendig sind“, sagt er. Die Ärzte verschreiben irgendein Mittel – und nicht das genau passende. Der demografische Wandel verschärft das Problem. Mehr ältere und vielfach vorerkrankte Patienten sind in Kliniken – und diese Menschen haben in ihrem Leben meist schon häufig Antibiotika eingenommen. Dass die Erreger auf ihrem Körper resistent sind, ist sehr wahrscheinlich. Antibiotika wirken gegen diese Erreger also nicht besonders gut, manchmal sogar gar nicht. Bei jungen Menschen ist das Auftreten dieser resistenten Keime unwahrscheinlicher.

„Nosokomiale Infektionen kommen in jeder Klinik vor“, sagt Klaus-Friedrich Bodmann, Chefarzt der Klinik für Internistische Intensivmedizin und Interdisziplinäre Notfallaufnahme am Werner- Forßmann-Krankenhaus in Eberswalde. „Das liegt auch daran, dass immer mehr Menschen mit komplizierten diagnostischen und therapeutischen Eingriffen versorgt werden. Es werden Schrittmacher, Herzklappen und Gelenk- und Gefäßprothesen eingesetzt – und solche Fremdmaterialien bringen immer ein Risiko für Infektionen mit sich.“

Das zeigen spektakuläre Fälle. In einer Klinik in Fulda kam es wiederholt zu Hygienefehlern. Im Dezember 2010 wurde Operationsbesteck nicht richtig desinfiziert, Flugrost fraß an Skalpellen und anderen Geräten, Bakterien und Blutreste klebten an den Instrumenten. Patienten kamen angeblich nicht zu Schaden. Im Januar musste der Operationsbetrieb fast komplett eingestellt werden, bis die fehlerhafte Sterilisationsanlage ausgetauscht worden war. Der Betrieb ging normal weiter, drei Monate lang. Im April dann der nächste Skandal: Wieder war mit nicht sterilem Besteck operiert worden. Klinikchef Harald Jeguschke sprach von „menschlichem Versagen der höchsten Stufe“. Die Instrumente und Siebe wurden gereinigt und desinfiziert, aber nicht sterilisiert. Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen Anklage erhoben, der Klinikchef trat zurück. An zwei städtischen Kliniken in München mussten vergangenes Jahr drei Klinikchefs gehen, weil auch hier die Sterilisierung nicht funktioniert hatte.

Mainz, Fulda, München – pro Jahr gibt es ein bis zwei größere Skandale an deutschen Krankenhäusern. Man liest dann von „Killerkeimen aus den Kliniken“, einzelne Häuser werden an den Pranger gestellt. Dabei ist es im Rückblick fast schon ein Glücksfall, wenn eine Klinik von multiresistenten Erregern verschont bleibt, sagen Hygieneexperten und Kenner des deutschen Gesundheitswesens.

Manche wundern sich gar, dass „Killerkeimskandale“ nicht häufiger sind. Das weiß auch Katja Mitic, 36. Die Berliner Journalistin bekam über Jahre hinweg schlecht Luft, schniefte ständig, fühlte sich schon abhängig von Nasenspray. Deshalb wollte sie sich ihre Nasenscheidewand korrigieren lassen. Sie suchte sich einen Experten, einen mit guten Referenzen, und buchte sich einen Flug nach Frankfurt am Main. Die Operation verlief gut. Nach vier Wochen sagte der Arzt: „Alles okay, Sie können beruhigt in den Urlaub fliegen.“ Sie flog nach Sardinien. Aber wie bei Marianne Becker durchkreuzten winzige Bakterien ihren Plan. „Im Flugzeug hatte ich das Gefühl, dass meine Nase explodiert“, sagt sie heute. Sie ging zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Ein Abszess hatte sich gebildet, eine neue Operation musste sein. Nach ein paar Wochen dann das gleiche Spiel: wieder ein Abszess, wieder eine OP. Mitic war geschwächt, als ein Arzt ihr Zimmer betrat. „Sie müssen leider ab sofort alleine liegen“, sagt er. „Wir haben Sie positiv auf MRSA getestet.“ MRSA, das bedeutete Einzelzimmer, Krankenschwestern in hygienischer Vollmontur, kaum Besuch. Katja Mitic wurde isoliert. Die Geschichte nahm einen typischen Verlauf: Viel später als normal verheilte die Wunde. Mitics Immunsystem hatte, unterstützt von Medikamenten, die Bakterien bekämpft.

Die Entzündung heilte, die Wunde schloss sich. Die Patientin durfte nach Hause. Und dann fing alles von vorne an: vereiterte Nase, neuer Abstrich, neues Attest. MRSA-positiv. Die Bakterien waren nicht alle verschwunden, sie hatten eine neue Entzündung ausgelöst. Es mag zynisch klingen, aber Katja Mitic hatte noch Glück. Denn die MRSA-Keime, die ihr Leben veränderten, sind nicht die gefährlichsten Krankenhauskeime, nur die bekanntesten. Andere Kandidaten aber sind aggressiver – und auf dem Vormarsch: „Wir beobachten immer häufiger andere multiresistente Bakterien“, sagt Bodmann. „Escherichia coli – durch die EHEC-Infektionen jüngst in Erinnerung gerufen – oder Klebsiellen bilden vermehrt sogenannte Extended Spectrum Beta-Lactamasen, ESBL. Solche Bakterien haben durch Mutationen oder den Austausch von Genmaterial gelernt, bestimmte Enzyme zu bilden, die die sogenannten Betalaktam-Antibiotika, also Penicilline, Cephalosporine und Carbapeneme zerstören.“

Die meisten keimtötenden Antibiotika wirken gegen die ESBL-bildenden Erreger nicht mehr. „Sie breiten sich momentan aus“, sagt Bodmann, „wer durch solche Erreger erkrankt, bei dem wirken fast keine Substanzen mehr.“ Und wenn keine Medikamente mehr wirken, auch nicht die, die nur in wirklich hartnäckigen Fällen eingesetzt werden, wenn das Immunsystem des Patienten schwach ist und die Erreger im Körper auf keinen Widerstand mehr treffen, dann vermehren sie sich ungehemmt. Das kann für Menschen den Tod bedeuten.

Ein großes Problem bei uns, nicht aber in den Niederlanden. Denn hier bekommt nicht jeder Patient wegen eines Wehwehchens gleich ein Antibiotikum. Deshalb sind weniger Erreger resistent – und in Kliniken machen sie keine Probleme. Bei uns müsste jeder Arzt sich genau über die den aktuellen Stand der Forschung informieren, um zu wissen, bei welchen Krankheiten man welches Antibiotikum verschreibt.

Wie schnell sich aber aus dem unbedarften Umgang mit den Medikamenten eine Gefahr entwickelt, zeigen Zahlen, die am Robert-Koch-Institut erhoben wurden. 2003 wurden bei rund einem von 1000 Intensivpatienten die gefährlichen ESBL-Bildner-Keime nachgewiesen. Fünf Jahre später waren es bereits vier von 1000 Patienten. An Universitätskliniken, die viel mehr und schwerer erkrankte Patienten haben, hatte sich die Häufigkeit der ESBL-Keime sogar verzehnfacht. Wie kann verhindert werden, dass derart gefährliche, unbemerkt eingeschleppte Erreger auf Wunden oder auf Patienten gelangen und dort schwere Infektionen hervorrufen? Schließlich gibt es überall Bakterien, schließlich überleben sie auch unwirtliche Bedingungen. Viele verbreiten sich beim Händeschütteln und überleben auf Türklinken oder in Gemeinschaftstoiletten. Und in jedem Krankenhaus gibt es offene Wunden, in denen sie gefährliche Infektionen hervorrufen können. Kliniken sind also naturgemäß ein Hort für Erreger. Deshalb suchen Wissenschaftler auch nach Mitteln, die Ungemach auszumerzen. Teilweise kommen sie dabei auf ungewöhnliche Ideen: In der vergangenen Woche präsentierten Forscher aus Singapur eine Art Biowaffe gegen bestimmte resistente Erreger: Sie programmierten harmlose Darmbakterien so um, dass sie antibiotikaresistente Bakterien namens Pseudomonas aeruginosa angreifen und töten. Genau diese verursachen in Deutschland zehn Prozent aller Krankenhaus-Infektionen. Aber ist es praktikabel, genetisch veränderte Bakterien gegen andere Bakterien in den Kampf zu schicken?

Ein anderer, seit Jahren verfolgter Weg ist technischer Natur: In einigen Kliniken werden mittlerweile Türklinken und Schalter aus Kupfer eingebaut. Das Metall tötet Bakterien. Wenn nun ein Patient, der auf seiner Hand Erreger trägt, die Türklinke oder den Lichtschalter anfasst, so sterben die Bakterien, bis der nächste Patient die Türe berührt. Diese technische Hygiene kann ein wenig helfen – aber eben nur ein wenig.

Um wenigstens etwas mehr Systematik in die Diskussion zu bekommen, kündigte in dieser Woche das Uniklinikum in Jena eine Großstudie an: 75 000 Menschen sollen in vier Jahren auf Krankenhauskeime und deren Ursprung hin untersucht werden. Andere Krankenhäuser wollen eine Art Sternsystem einführen: Je sauberer und je weniger Infektionsfälle – umso mehr Sterne soll es geben. In Großbritannien geben Kliniken im Internet an, wann der letzte MRSA-Fall aufgetreten ist. So kann ein Patient bei einer planbaren Operation abschätzen, welche Klinik er wählen sollte.

„Man kann natürlich nicht alle, sondern nur einen Teil dieser mit medizinischen Maßnahmen verbundenen Infektionen beherrschen“, sagt Uwe Schulte-Sasse, Direktor der Klinik für Anästhesie und Operative Intensivmedizin an den SLK-Kliniken Heilbronn. Um 50 Prozent könne man die Infektionsrate an Kliniken verringern, sagt er. Es müssten nur einfache Regeln beachtet werden. „Das Infektionsrisiko wäre voll beherrschbar, wenn alle sich stets an alle Hygienemaßnahmen halten würden. Wenn ich als Krankenhausleiter ein Hygienerisiko minimieren will, muss ich mich fragen, ob alle meine Mitarbeiter in meiner Klinik die Hygieneregeln immer, in jeder Situation, einhalten können.“

Das ist zurzeit nicht der Fall. Auch Klaus-Dieter Zastrow, Leiter des Instituts für Hygiene und Umweltmedizin am Vivantes Klinikum in Berlin-Spandau und Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, ist davon überzeugt, dass sich „mindestens die Hälfte der nosokomialen Infektionen dadurch vermeiden ließe, wenn die Hygieneregeln besser eingehalten würden“. Seit Jahren macht er sich dafür stark, dass das Infektionsschutzgesetz verschärft wird. Das bedeute vor allem, dass sich das Pflegepersonal an die Regeln der Standardhygiene hält. Standardhygiene wiederum meint Handhygiene – also das Einreiben der Hände mit Desinfektionsmittel, jedes Mal, vor und nach dem Kontakt mit dem Patienten.

Klingt einfach, ist es aber offensichtlich nicht. Die Weltgesundheitsorganisation hat 2005 die „Aktion Saubere Hände“ ins Leben gerufen. Die Kampagne zeigt in ihrer Unbeholfenheit das Ausmaß der Hilflosigkeit. An jährlich stattfindenden Hygienetagen sollen die Regeln teilweise mit Musik oder Theaterstücken „erlebbar“ gemacht werden. Die Aktion reduziert sich im Grunde auf ein Logo, das sich eine Klinik an die Eingangstür kleben kann, wenn sie sich offiziell zur Hygiene bekennt. „Im Internet können Sie sich Videos mit ‚Hygiene-Tänzen‘ ansehen“, sagt der Intensivmediziner Schulte-Sasse. Er kennt die Abläufe auf Intensivstationen, sein Leben als Arzt hat er hier verbracht, in zwei Monaten geht er in den Ruhestand. „Wenn man sich den Alltag auf den Stationen mal ansieht, dann merkt man schnell, dass auch noch so kreative Tänze nichts nützen.“

Warum aber ist es so schwierig, warum können in einem Krankenhaus nicht alle stets alle Hygieneregeln beachten? „Stellen Sie sich eine Krankenschwester vor, die in einem Zimmer drei Patienten versorgen muss. Sie geht hinein, und bevor sie auf den ersten Patienten zutritt, muss sie sich 30 Sekunden lang die Hände mit Desinfektionslösung einreiben“, erklärt Schulte-Sasse. „Bevor die Krankenschwester dann eine Spritze setzt, muss sie sich wieder die Hände desinfizieren. Dann piepst vielleicht der Monitor des Nachbarpatienten: Sie drückt auf ein paar Knöpfe und muss sich hinterher, bevor sie zum ersten Patienten zurückkehrt, wieder die Hände desinfizieren. Schließlich muss sie nach dem Eintragen der erledigten Arbeitsschritte in die Patientenakte noch einmal die Hände desinfizieren.“ Normaler Alltag, wenn die Schwester einen Patienten versorgt.

Auf einer Intensivstation mit 14 Betten ist eine Schwester aber nicht nur für einen Kranken zuständig. Sie muss im Schnitt drei bis vier Patienten in einer Schicht von acht Stunden versorgen. Studien haben ergeben, dass sich dabei bis zu 150 Anlässe zur Händehygiene ergeben können. 150 mal 30 Sekunden die Hände zu desinfizieren kostet Zeit, genauer: 75 Minuten. Tagsüber sind die Intensivstationen normalerweise einigermaßen gut besetzt, aber nachts kann es vorkommen, dass auf einer Intensivstation fünf Schwestern für 14 Patienten zuständig sind. Eine Schwester müsste sich dann sogar bis zu eineinhalb, zwei Stunden lang die Hände desinfizieren.

Pia Creutzburg-Laschinsky sieht das anders. Sie ist seit 18 Jahren Fachkrankenschwester für Hygiene und Landesvorsitzende der Vereinigung der Hygienekräfte für Berlin und Brandenburg. „Das ist eigentlich Quatsch, man macht doch auch andere Sachen ständig nebenbei. Genauso nebenbei kann man sich auch die Hände desinfizieren, in der Bewegung, wenn man von einem Patienten zum nächsten geht. 30, 45 Sekunden, diese Zeit ist da.“ Das Problem sei vielmehr, dass die Pflegekräfte nicht daran denken. „Es besteht auch häufig die Angst, dass zu viel an Desinfektionsmittel der Haut schadet, was nicht stimmt – im Gegenteil, es pflegt die Haut durch rückfettende Substanzen. Dass die Händehygiene aus Zeitgründen nicht immer eingehalten werden kann, ist ein Denkfehler vieler Mitarbeiter.“ Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum es denn trotz allem Wissen um die Wichtigkeit der Händehygiene noch immer zu Infektionen kommt, stößt man auf viele Erklärungen.

Das Pflegepersonal schiebt die Verantwortung auf die Ärzte, die Ärzte sagen, die Schwestern seien schuld. Letztlich haben wohl beide Seiten recht – und das heißt, dass etwas im System nicht stimmt. „Es gibt zu wenige Hände im Krankenhaus für zu viele Patienten“, sagt Schulte-Sasse. „Es ist in vielen Studien gezeigt worden, dass dieser Zustand zu Ausbrüchen von Infektionen in Krankenhäusern führt.“ Wolle man solche Outbreaks vermeiden, dann müsse man entweder weniger Patienten aufnehmen oder mehr Pflegekräfte und Ärzte einstellen. „Momentan stimmen die Rahmenbedingungen mit im Schadensfalle identifizierbaren, patientenfernen Verantwortlichen nicht. Da nutzt auch eine ‚Aktion Saubere Hände‘ nichts.“ Genauso wenig wie Schuldzuweisungen. Hier, beim Personalmangel, kommt das Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes ins Spiel, das der Bundesrat Anfang Juli abgenickt hat. Jetzt sind die Bundesländer dazu verpflichtet, per Rechtsverordnung dafür zu sorgen, dass die Hygiene in den Kliniken verbessert wird. So sieht es zumindest Hygieneexperte Klaus-Dieter Zastrow. Die Krankenhäuser sollen deshalb mehr Ärzte und Pflegepersonal mit Hygieneausbildung einstellen.

Bislang hatten nur sieben der 16 Bundesländer Hygieneverordnungen. „Die Neuerung des Gesetzes bedeutet einen großen Sprung für die Krankenhaushygiene“, sagt Zastrow. Er hat das Konzept der neuen Verordnung mit ausgearbeitet und ist auf einige Passagen besonders stolz. Zum Beispiel auf die, in der festgelegt ist, dass nun endlich die Leiter der Kliniken dazu „gezwungen“ werden, die Arbeitsbedingungen für Ärzte, Schwestern und Pfleger so zu gestalten, dass sie Erreger nicht von einem Patienten zum nächsten tragen. „Im neuen Gesetz steht explizit, dass nun der Leiter der gesamten Klinik verantwortlich ist. Also derjenige, der auch über die Finanzierung einer Klinik wacht“, erklärt Zastrow. Wenn im Bereich der Hygienekräfte gespart werde, sei das riskant – für die Patienten und für den Ruf der Klinik. Der Leiter müsse jetzt abwägen, ob er beispielsweise lieber noch einen Chirurgen einstellt, der die Produktivität des Hauses erhöht, oder einen Hygieniker, der sich ausschließlich um die Sicherheit der Patienten und eine optimierte Antibiotika- Therapie kümmert. Entscheidet er sich für das Risiko, kann er nun im Fall eines Outbreaks verantwortlich gemacht werden.

Mehr Hygienefachkräfte – das hört sich nach steigenden Kosten im ohnehin angespannten Gesundheitssystem an. Experten schätzen, dass es um 76 Millionen Euro im Jahr geht. Sicher müssen die Kliniken mehr Geld ausgeben, nicht nur für Personal, auch für Testreihen, Laboruntersuchungen, Verwaltung. Der erhoffte Effekt ist allerdings nicht bloß ein geringeres Keimaufkommen, sondern wesentlich weniger Folgekosten für die Behandlung von bakterienbelasteten Patienten. Momentan aber sind Krankenhäuser vor allem an schnellem Durchlauf interessiert. Hygieniker sind effizient. Immerhin können MRSA-Bakterien, die etwa 30 Prozent aller Krankenhausinfektionen auslösen und an denen jährlich 1500 bis 2000 Patienten sterben, mittlerweile mit einem Schnelltest identifiziert werden. Nach 70 Minuten besteht Klarheit. Kosten: maximal 32 Euro. Die Regel sind, wenn überhaupt, Normaltests für 1,50 Euro das Stück. Diese Tests liefern aber erst nach 48 Stunden ein Ergebnis, manchmal auch erst nach einer Woche. Das dauert zu lange – schließlich kann sich der Patient in der Zwischenzeit infizieren.

Und Hygieniker sind nicht überall. Im Oktober 2010 gab es eine Umfrage, an der rund 900 von 2038 Kliniken teilnahmen. Auf die Frage, ob Risikopatienten standardmäßig auf MRSA getestet werden antworteten 38 Prozent mit „ja“. Nur 38 Prozent. Bei der Einstellung von mehr Hygienepersonal geht es nicht nur um mehr hauptberufliche Experten, die den Erregerstatus auf den unterschiedlichen Abteilungen im Blick haben, sondern um das Gesamtbild. „Die sogenannte Surveillance, die fortlaufende, systematische Erfassung, Analyse und Interpretation der Daten ist eines der besten Instrumente zur Infektionsvermeidung“, erklärt der Intensivmediziner Uwe Schulte-Sasse. „Man muss es sich vorstellen wie einen Feuerwachturm in einem großen Wald in Kanada: Wenn es diese Türme gibt und sie besetzt sind, dann wird man jedes Feuer schnell registrieren, seine Ursache erkennen und es löschen können. Nach der neuen Hygieneverordnung sind die Leiter von Krankenhäusern praktisch verpflichtet, in ihren Kliniken solche ‚Wachtürme‘ aufzustellen und zu besetzen. Es müssen Hygienekräfte eingestellt werden, die den ganzen Tag über mit der Analyse des Keimgeschehens auf den verschiedenen Stationen beschäftigt sind.“ „Man braucht etwa 1500 zusätzliche Hygienefachkräfte in Deutschland“, sagt Klaus-Dieter Zastrow. „Anders ausgedrückt: Pro 200 Betten muss es eine Fachkraft geben.“ Derzeit sind aber 40 Prozent der Stellen für Hygienefachkräfte nicht besetzt, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene.

Es gibt weitere Ursachen für die starke Verbreitung von resistenten Erregern in Deutschland: „Bislang gibt es nur für wenige der vielen üblen Erreger einen Schnelltest“, sagt Schulte- Sasse. Und wenn es einen Test gibt, müsse jemand dranbleiben an den Ergebnissen und dafür sorgen, dass der Patient schnell isoliert und besonders behandelt werde. Katja Mitic, die Journalistin mit der Nasen-Operation, wurde im Rahmen dieser Surveillance, der Überwachung, herausgefischt. Hier griff das System. Ihr wurde so die bestmögliche Versorgung zuteil – und gleichzeitig wurden andere Patienten vor den Erregern, die auf ihr siedelten, geschützt. Aber bisher klappt dieses „Herausfischen“ noch viel zu selten. „Man braucht innerhalb der Kliniken eine schnelle Rückmeldung, damit man überhaupt weiß, ob man gerade eine Häufung von Erregern hat, damit man weiß, was zu tun ist“, sagt Zastrow. „Tragen mehrere Patienten den gleichen potenziell gefährlichen Erreger, können sie beispielsweise gemeinsam in einem Zimmer isoliert werden.

Man braucht nicht drei Einzelzimmer – und man braucht auch nicht drei Krankenschwestern für die Versorgung dieser Patienten“, sagt er. Dass die Umsetzung neuer Hygienevorschriften zu viel Geld kosten würde, streitet er ab. Man müsse vielmehr auch beim Bewusstsein des Pflegepersonals ansetzen. „Der Hygienefehler, der von einer Krankenschwester gemacht wird, ist ja nie sofort sichtbar. Erst drei bis vier Tage später wird der Patient richtig krank. Wenn der Patient dann aber schon auf eine andere Station verlegt wurde, bekommt die Krankenschwester nicht mit, dass sie einen Fehler gemacht hat.“

Uwe Schulte-Sasse sieht das anders: „Auf Schlamperei und Pfusch auf den Stationen kann man das Problem nicht reduzieren, das ist viel zu kurz gegriffen“, sagt er. „Dass alle Beteiligten stets alle Hygienevorschriften genau einhalten, ist nicht zu leisten. Nebenbei: Würde das in unseren Kliniken gemacht, dann hätten wir sofort ein Versorgungsproblem. Es gäbe nicht genügend freie Betten. Es gäbe sehr lange Wartezeiten – und auch das kann ja Menschenleben kosten.“ Liefe alles so weiter wie bisher – dann würden sich die Fälle schwerer Krankenhausinfektionen häufen. Mehr Menschen wären Träger von gefährlichen Erregern. Sie brächten die Keime mit in die Kliniken. Und hier würden sich immer mehr, vor allem ältere und vorerkrankte Menschen infizieren. Das Wort „Krankenhaus“ hätte damit eine neue Deutung verdient: der Ort, an dem man krank wird. Es würden mehr als 30 000 Menschen pro Jahr an Klinikinfektionen sterben.

Schulte-Sasse will, dass das System sich verändert. Jeder Station soll monatlich ihre Keimbilanz präsentiert werden – so, wie es derzeit mit dem ökonomischen Stand der Abteilung gemacht wird. „Solche Präsentationen erzeugen einen enormen kollektiven Druck – aber sie machen alles transparent. Und so könnte man es auch beim Hygienemanagement machen“, sagt der Hygiene-Fachmann. „Dann sieht man genau, ob auf einer Station immer wieder kleinere Infektionsherde aufflammen – und dann kann man etwas dagegen tun.“ Noch wichtiger sei, dass auch patientenferne Mitarbeiter, beispielsweise im Management, wissen, was bei einem Outbreak zu tun ist. „Wenn Daten, wie bislang Usus, nur in irgendwelchen Aktenordnern landen, ist damit niemandem geholfen. Man bekommt nur ein großes Datengrab.“

Katja Mitic haben die Daten genutzt: Bei ihr wurden die fiesen Erreger erkannt, seither ist sie mit der „Sanierung“, wie die komplette Desinfektion des Patientenkörpers genannt wird, beschäftigt. Sie muss sich dreimal am Tag die Nase mit einer keimtötenden Salbe einreiben, muss mit einer Desinfektionslösung gurgeln und mit einem Duschgel baden, das so aggressiv ist, dass es besser nicht ins Grundwasser gelangt. Das macht sie nun schon seit drei Wochen. Aber noch immer heißt es beim Arztbesuch: MRSA-positiv. Und Marianne Becker? Immerhin: Sie wurde einigermaßen gesund, kann wieder in der Tankstelle arbeiten. Als es ihr vor vier Jahren etwas besser ging, ist sie in die Klinik gefahren, in der ihre Gallenblase entfernt wurde. Hat einen Termin bei ihrem Operateur bekommen, das Gespräch gesucht.

„Er hat mich abblitzen lassen“, erinnert sie sich. „Er hat alles weggewischt. ‚Sie haben eine Infektionen hier im Krankenhaus bekommen?‘ hat der Arzt mich von oben herab gefragt. Das müsse ich ihm erst einmal beweisen.“ Marianne Becker ist noch immer zornig. „Dieser Arzt hat mir das Gefühl gegeben, ich sei selbst schuld an der Geschichte. Das hat mir den Rest gegeben.“ Sabrina Sokoloff, Rechtsanwältin mit dem Spezialgebiet Patientenrecht, vertritt heute Marianne Becker. Die Anwältin sitzt in ihrer Berliner Kanzlei am runden Glastisch. Beim Kaffee erklärt sie, was Krankenhauskeime aus Juristensicht so spannend macht und was Patienten zur Verzweiflung treibt: Es ist die Beweislast. „Man muss alles sehr genau prüfen“, sagt sie. „Wo ein Fehler passiert sein könnte, ob die medizinischen Eingriffe alle nach dem medizinischen Standard ausgeführt wurden.“ Der Patient muss den Behandlungsfehlers nachweisen können.

Alle Fakten zusammenzubekommen ist oft kaum möglich. In die Patientenakte dürfen Patient und Anwalt zwar Einsicht nehmen – aber ob Gespräche korrekt gelaufen sind, ob bei der Operation alles glattging – das kann wohl keiner, der nicht dabei war, nachvollziehen. „Die Hälfte aller Fälle muss ich von vorneherein ablehnen“, erklärt Sokoloff. „Die Beweislage ist nicht klar, der Fall aussichtslos.“ Doch bei Marianne Becker sieht sie eine Chance. Sie bat zuerst um ein Gutachten der Schlichtungsstelle der norddeutschen Ärztekammern, um die Aussichten für eine außergerichtliche Schadensabfindung abzuklären. Bis zur Antwort der verging fast ein Jahr. Sie war negativ. „Das war schlimm“, sagt Marianne Becker. Sie blättert ein wenig hilflos im Ordner aus ihrem Spind, in Gutachten und Briefen. „Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich wirklich vor Gericht gehen will, ob ich den Aktendeckel nicht einfach zuklappe“, sagt Becker. Nicht, weil sie auf Schmerzensgeld oder Schadenersatz hofft. Sie will klären, dass sie recht hat. Dass sie heute einen vernarbten Bauch hat, weil in einer Klinik ein Fehler passiert ist. Deshalb gibt sie nicht auf. „Ich will einfach, dass jemand mir recht gibt, dass Ärzte, die gegenüber Patienten eine so arrogante Haltung an den Tag gelegt haben wie der meine, sehen, dass sie damit nicht durchkommen.“

Marion Rosenke, Fachanwältin für Medizinrecht in Halle/Westfalen, betreut seit 15 Jahren Klagen für Patienten. „Bei uns ist der Respekt vor dem Beruf des Arztes noch immer sehr groß. Das ist wohl auch der Grund, warum es angesichts der geschätzt über 600 000 Krankenhausinfektionen pro Jahr nicht zu viel mehr Klagen kommt“, sagt sie. „Aber diese Haltung bröckelt. Man lässt sich einfach nicht mehr alles gefallen. Absolut zweitrangig ist es für meine Mandanten, ob sie einen Schadenersatz bekommen und wie hoch der ist.“ Bei Marianne Becker steht, vier Jahre nach der Infektion, noch kein Gerichtstermin fest. „Ich glaube nicht, dass das in diesem Jahr noch was wird“, sagt sie. „Und ehrlich gesagt, mir graust es auch davor.“ Sie lächelt etwas gezwungen. Wer sich entscheidet, nach einer Krankenhausinfektion gegen Ärzte und Kliniken zu klagen, braucht starke Nerven – und vor allem Ausdauer.

Katja Mitic sieht gar keinen Sinn in einer Klage. Sie weiß nicht, wann sie sich infiziert hat. Ob der Keim schon lange auf ihr selbst lebte, sie ihn sich im Krankenhaus, in der U-Bahn, im Flugzeug oder beim Einkaufen eingefangen hat. Gegen wen soll sie da klagen? Die Rechtsanwältin Marion Rosenke will Patienten wie ihr mehr juristische Möglichkeiten eröffnen. Sie hat eine Klage beim Bundesgerichtshof eingereicht. Der Inhalt: Die Daten, die in den Kliniken für die Überwachung bei der Surveillance erhoben werden, sollen auch für Patienten verfügbar werden. Eine Fundgrube für Patientenanwälte.

Aber derzeit dürfen nur die Gesundheitsämter diese Akten einsehen. „Könnte der Patient an dieser Stelle aber sagen: ‚In den beiden Wochen, in denen ich auf der Intensivstation dieser Klinik lag, gab es hier ein erhöhtes Aufkommen an den Bakterien, die nachweislich für meine Infektion verantwortlich sind‘, wären wir einen großen Schritt weiter“, sagt die Rechtsanwältin. In der ersten und zweiten Instanz wurde entschieden, dass Patienten und ihre Anwälte keine Einsicht bekommen. Nun sind die Richter des Bundesgerichtshofs gefragt.

Müssen wir mit dem Risiko von Klinikinfektionen leben? Ja, solange sich das System nicht ändert. Wollte man es loswerden, so müssten die Ärzte Antibiotika gewissenhafter ausgeben. Die Kliniken müssten alle Patienten auf resistente Keime testen – und lieber mal einen weniger aufnehmen. Pflegepersonal und Ärzte müssten immer alle Hygieneregeln beachten. Die Surveillance müsste verbessert werden. Das alles wird Geld kosten – und es ist fraglich, ob das Gesundheitssystem dafür genug Kraft und Interesse aufbringt. Bislang ist der öffentliche Druck nicht hoch. Marianne Becker will, dass sie endlich Recht bekommt.

Jürgen Zastrow und Uwe Schulte-Sasse wollen, dass das neue Gesetz mehr Zeit und Bewusstsein für die Hygiene bringt. Alexander Friedrich und Klaus-Friedrich Brodmann wollen, dass der fehlerhafte Antibiotika- Einsatz endlich erkannt und gebannt wird. Und Katja Mitic will einfach wieder normal leben. Ohne aggressives Duschbad und ohne Nasensalbe. Leben – ohne Krankenhauskeime. Aber das wollen alle. Schon lange.