80.000,- Euro wegen unterlassener Darmkrebs-Vorsorgeuntersuchung

Im Herbst 2007 litt mein damals 63 Jahre alter Mandant unter starken Rückenschmerzen und begab sich deshalb zu seinem Hausarzt, der eine Lumbalgie diagnostizierte. Nach Angaben des Arztes sollte es sich um "alte Bandscheibenvorfälle" gehandelt haben, obwohl die neu aufgetretenen Schmerzen nach Angaben des Patienten nicht mit den ihm aus früheren Zeiten bekannten Rückenschmerzen vergleichbar waren. Es traten auch Stuhlgangunregelmäßigkeiten (bis zu zehn Toilettengänge pro Tag) und ein extremer Gewichtsverlust (16 kg in drei Monaten) auf. Darauf angesprochen erwiderte der Hausarzt, dass mein Mandant, der vorher übergewichtig war, wegen des Gewichtsverlusts so weitermachen solle. Den Wunsch des Patienten nach einer Darmspiegelung lehnte der Arzt ab, weil aufgrund einer ständigen Cortisoneinnahme "der Darm eh angegriffen sei und man nichts feststellen würde". Erst nach einem Jahr Insistierens stellte der Hausarzt dem Patienten eine Überweisung für eine Darmspiegelung (Koloskopie) aus. Diese wurde umgehend durchgeführt, wobei man einen Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium feststellte. Mein Mandant musste sich einer sofortigen Darmkrebsoperation mit Anlage eines künstlichen Darmausgangs unterziehen, wobei auch schon eine Samenblase und die Prostata befallen waren und sich Metastasen in der Lunge gebildet hatten. Er "musste" sich auch einer nebenwirkungsträchtigen palliativen Chemotherapie unterziehen. Daraufhin angemeldete Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche lehnte die Versicherung des Hausarztes ab, weshalb im Oktober 2009 Klage zum Landgericht Bielefeld erhoben wurde.

Der vorgetragene Sachverhalt wurde von dem verklagten Hausarzt in Abrede gestellt. Der Patient habe ihn nie um eine Darmspiegelung gebeten. Ein Gewichtsverlust habe in dem angegebenen Zeitraum nicht stattgefunden und auch von Stuhlgangunregelmäßigkeiten sei ihm nicht berichtet worden. Das Landgericht Bielefeld holte ein medizinisches Sachverständigengutachten bei einem Facharzt für Innere Medizin und Hämatologie / Onkologie ein. Der Sachverständige führte aus, dass jeder gesetzlich Krankenversicherte ab dem 50. Lebensjahr das Recht auf jährliche Stuhluntersuchungen auf okkultes Blut sowie ab dem 55. Lebensjahr auf zwei Vorsorgekoloskopien innerhalb von zehn Jahren hat. In den S3-Leitlinien für Diagnose und Behandlung des Kolorektalen Karzinoms werde festgehalten, dass eine ärztliche Beratung über diese Screeningmethoden unerlässlich sei, und zwar auch unabhängig von evtl. klinischen Beschwerden des Patienten. Er führte weiter aus, dass das kolorektale Karzinom beim Kläger mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in einem früheren Stadium diagnostiziert worden wäre, wenn man frühzeitiger eine Koloskopie durchgeführt hätte. Die Therapie hätte sich ungefähr über sechs Monate erstreckt mit potentieller Heilung des Klägers. Auch die Anlage eines Anus praeters (künstlicher Darmausgang) hätte ggf. verhindert werden können. Die palliative Chemotherapie wäre dem Kläger erspart geblieben. Das Unterlassen dieser Aufklärungsverpflichtung (ärztlicher Hinweis auf Vorsorgeuntersuchungen) bewertete der Sachverständige als groben Behandlungsfehler. Weiterhin stellte der gerichtliche Gutachter fest, dass - wenn man den klägerischen Vortrag mit Gewichtsverlust und Stuhlgangunregelmäßigkeiten zugrundelegt - eine klare Indikation zu weiterführenden Untersuchungen bestanden hatte und der verklagte Hausarzt auch an eine maligne Krebserkrankung hätte denken müssen.

Während des laufenden Gerichtsverfahrens verstarb der Kläger an der zu spät erkannten Krebserkrankung. Der Rechtsstreit wurde von der Witwe weitergeführt. Trotz der gutachterlichen Feststellungen wies das Landgericht Bielefeld die Klage ab. Es führte u. a. aus, dass der Kläger auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung durch den Beklagten die Möglichkeit zur Durchführung einer Vorsorgekoloskopie nicht vor Eintritt der im Jahr 2007 aufgetretenen Symptome wahrgenommen hätte (Landgericht Bielefeld, Urteil vom 10.02.2012, 4 O 440/09).

Gegen dieses Urteil haben wir Berufung zum Oberlandesgericht Hamm eingelegt! Dort fanden zwei Beweisaufnahmetermine mit gerichtlichen Sachverständigen statt. Auf Vorschlag des 26. Zivilsenats haben die Parteien des Rechtsstreits sodann im Oktober 2013 einen gerichtlichen Vergleich geschlossen, demzufolge die Witwe des verstorbenen Patienten einen Abfindungsbetrag in Höhe von 80.000,- Euro erhielt (OLG Hamm, I-26 U 80/12).