Extubation nach Langzeitbeatmung - Patientin wird reanimationspflichtig und verstirbt nach vier Monaten
Dieser tragische Fall hat sich im Jahr 2004 zugetragen. Die damals 19-jährige Patientin litt nach einer Tonsillektomie seit ihrem 10. Lebensjahr an Diabetes mellitus Typ 1. Im September 2004 wurde sie in den M.-Kliniken in L. wegen rezidivierenden Erbrechens und Verschlechterung des Allgemeinzustands stationär aufgenommen und u. a. maschinell beatmet. Nach 13 Tagen Langzeitbeatmung sollte die Patientin extubiert werden. In der unmittelbaren Phase nach Extubation kam es zu einer Reanimationspflichtigkeit und einem hypoxischen Hirnschaden, wodurch sie schwerstpflegebedürftig wurde und ca. vier Monate später verstarb.
Meine Mandantin, eine gesetzliche Krankenversicherung, hatte bei der Haftpflichtversicherung der M.-Kliniken außergerichtlich einen Schadenersatzanspruch wegen ihrer eigenen Leistungsaufwendungen (vor allem hohe Krankenhausbehandlungskosten und Kosten der Frührehabilitation) in Höhe von knapp € 116.000,- geltend gemacht. Wegen Zahlungsverweigerung der Haftpflichtversicherung wurde die Klageerhebung - hier zum Landgericht Hagen - erforderlich.
Das Landgericht Hagen hat ein medizinisches Sachverständigengutachten bei einem Facharzt für Anästhesiologie mit der Zusatzbezeichnung Intensivmedizin, Notfallmedizin und fachgebundener Labordiagnostik in Auftrag gegeben. Dieser stellte mehrere ärztliche Behandlungsfehler, zum Teil auch grobe ärztliche Behandlungsfehler fest:
Eine laufende Analgosedierung (Kombination von Schmerz- und Beruhigungsmitteln) mit hochpotenten Medikamenten (hier Dormicum, Sufentanil und Propofol) erfordert vor einem Extubationsversuch eine ausreichend große Zeitspanne, in der diese Medikamente nicht mehr im Patienten wirken können, um nicht fortgesetzt eine tiefe Sedierung bis hin zur Narkose und Schmerzbekämpfung zu bewirken. Weil diese Medikamente eine Atemdepression bewirken, ist es dringend erforderlich, die Laufrate der Medikamente zu reduzieren und in einem ausreichenden Zeitraum vor dem Extubationsversuch zu stoppen. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass der durch den Tubus (während der Langzeitbeatmung und -sedierung) gesetzte Schmerzreiz durch die Analgosedierung unterdrückt wird. Bei Extubation ist dieser Schmerzreiz aber nicht mehr vorhanden, sodass die vorher adäquate Analgosedierung dann nicht mehr schmerzadäquat ist. Diese Tatsache muss bei der Planung der Extubation, ganz besonders nach einer Langzeitbeatmung und Langzeitsedierung, berücksichtigt werden. Bei der Behandlung / Extubation der jungen Patientin war hier der Zeitraum zwischen Beendigung der Analgosedierung und Extubation deutlich zu kurz. Der gerichtliche Sachverständige spricht in diesem Zusammenhang von einer medizinischen Kontraindikation für die Extubation und von einer bei weitem nicht ausreichenden Länge der Entwöhnungsphase (sog. Weaningphase).
In den ersten Stunden nach einer Extubation nach Langzeitbeatmung ist absolute Wachsamkeit seitens der Ärzte und der Pflege geboten. Es kann jederzeit zu dem Erfordernis einer Re-Intubation kommen, welche dann in Ruhe und mit intensiver Vorbereitung durchzuführen ist. Die Bereitschaft für eine jederzeitige Re-Intubation ist herzustellen. Bei der jungen Patientin kam es bereits nach ca. 50 Minuten zu einer azidotischen (= sauren) Stoffwechsellage, die sich im folgenden weiter verschlechterte. Gleichwohl vergingen weitere 45 Minuten, bevor die Ärzte die nächsten Blutgaswerte erhoben. Weiterhin stieg der Kohlendioxidpartialdruck auf 130 mmHg an und gleichwohl kam lediglich eine nicht-invasive Beatmungstechnik (BiPAP Vision) zum Einsatz. Dies wurde vom gerichtlichen Sachverständigen als unverständlich bezeichnet, was ein Hinweis für einen groben ärztlichen Behandlungsfehler ist. Es traten auch ein Stridor (pfeifendes Atemgeräusch) und eine Schwellung des Larynx (Kehlkopfbereichs) auf, womit nach einer Langzeitbeatmung immer gerechnet werden muss. Dadurch besteht die Gefahr einer Verlegung der Atemwege, wodurch wiederum ein gefährliches Negativdruck-Lungenödem entstehen kann. Vorliegend entwickelte sich in der Zeit nach der Extubation nach den Feststellungen des Facharztes für Anästhesie bei der jungen Patientin unzweifelhaft eine Hypoventilation (Minderatmung) mit schwerster respiratorischer Azidose. Dies wurde von ihm als fehlerhafte Behandlung bei mangelnder Aufmerksamkeit und nicht adäquater Reaktion der Behandler gewertet. Es hätte eine zügige therapeutische Intervention mit dem Ziel der Sicherung der Atemwege und einer raschen Oxygenierung (Re-Intubation) erfolgen müssen. Schließlich war auch die (verspätet durchgeführte) Re-Intubation nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt worden, weil nach der Dokumentation nicht das nötige Armentarium zur Verfügung stand, eine Notfall-Koniotomie (Schnitt in die Luftröhre zwischen Ring- und Schildknorpel) nicht in Betracht gezogen wurde und auch die Möglichkeit einer Notfalltracheotomie (Luftröhrenschnitt) hätte gegeben sein müssen.
Der gerichtliche Sachverständige konstatierte, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Intubationsversuche zu einem schweren Sauerstoffmangel bei der Patientin führten, der den Herzstillstand und nachfolgend die Hirnschäden auslöste. In seinem Ergebnis hielt er fest, dass die behandelnden Ärzte insbesondere im Hinblick auf die zu frühe Extubation, die nicht rechtzeitige adäquate Reaktion in der kritischen Entwöhnungsphase und die zu spät und fehlerhaft vorbereitete und durchgeführte Re-Intubation schwerwiegende ärztliche Behandlungsfehler begangen haben.
Auf dieser Grundlage hat das Landgericht Hagen mit Urteil vom 31.08.2012 ein Grundurteil gefällt, der Klage also dem Grunde nach stattgegeben (LG Hagen, 8 O 19/11). Dagegen haben die M.-Kliniken aus L. Berufung zum Oberlandesgericht Hamm eingelegt. Dort schlossen die Parteien des Rechtsstreits im Frühjahr 2013 einen gerichtlichen Vergleich, demzufolge die M.-Kliniken bzw. deren Haftpflichtversicherung an meine Mandantin einen Schadenersatzanspruch in Höhe von € 73.500,- zu zahlen hatte (OLG Hamm, 3 U 165/12).