Nicht erkannte Schlaganfall-Gefahr: Krankenkasse/Pflegekasse erhält 78.138,-Euro Schadenersatz

Die gesetzlich krankenversicherte Patientin B. L. verspürte im September 2002 Krankheitssymptome: Ihr war schwindelig, sie sah teilweise doppelt und in der rechten Gesichtshälfte hatte sie ein Kribbeln. Außerdem hatte sie in der linken Hand motorische Störungen. Mit Überweisungsschein ihres Hausarztes begab sich die Patientin am 18.09.2002 zur Neurologin, die ein seit einer Woche bestehendes taubes Gefühl in der linken Hand mit Schwäche befundete. Anamnestisch erhob sie eine seit 20 Jahren bestehende Bluthochdruckerkrankung, wobei sich aber die neurologische Untersuchung unauffällig darstellte. Die Reflexe waren überall symmetrisch schwach auslösbar. Es bestand aber eine Störung der Diadochokinese (schnelle Abfolge antagonistischer Bewegungen) ohne Sensibilitätsstörungen. Die Neurologin stellte eine Überweisung für eine MRT-Untersuchung des Schädels aus. Ein Hinweis auf besondere Dringlichkeit erfolgte nicht.

Zu der MRT-Untersuchung kam es nicht mehr, weil die Patientin am 28.09.2002 einen Schlaganfall erlitt. Der den hausärztlichen Notdienst verrichtende Arzt verordnete aber nur Paspertin (ein Mittel gegen Übelkeit) und schickte die Patientin wieder nach Hause. Abends wurde er vom Ehemann der Patientin nochmals herbeigerufen, weil sich der Zustand weiter verschlechterte. Die Patientin sackte im Beisein des Arztes zusammen. Dieser schickte sie aber nicht ins Krankenhaus, sondern sagte ihr, dass sie sich ins Bett legen solle. Unverrichteter Dinge fuhr er wieder davon. Später am Abend forderte der Ehemann den Rettungswagen an, womit die Patientin sodann ins Krankenhaus verbracht wurde. Die dortige Diagnostik ergab, dass Frau B. L. einen Schlaganfall erlitten hatte, weil sie eine ausgeprägte Stenose (Verengung) der Arteria carotis interna rechts und eine 70%ige Stenose der Arteria carotis interna links hatte.

Die Krankenkasse der Patientin gab ein medizinisches Gutachten in Auftrag, mit dem festgestellt wurde, dass sowohl die Neurologin als auch der den Notdienst verrichtende Arzt die Gefahrenlage und die Dringlichkeit weiterer Abklärung verkannt haben. Auf dem Boden der vorhandenen Stenosen kam es bei Frau B. L. zu rezidivierenden neurologischen Symptomen im Sinne einer TIA (transitorische ischämische Attacke). Bei einer TIA handelt es sich um die Vorstufe eines drohenden Schlaganfalls. Ein Schlaganfall ist als plötzlich auftretendes fokal-neurologisches Defizit mit einer Dauer von weniger als 24 Stunden definiert, das durch Durchblutungsstörungen des Gehirns ausgelöst wird. Einem ischämischen Schlaganfall geht in bis zu 20 % aller Fälle eine TIA voraus. In den ersten sieben Tagen nach einer TIA kommt es in 10 % aller Fälle zu einem ischämischen Schlaganfall. Damit wird deutlich, dass eine TIA als Warnsymptom und medizinischer Notfall nicht unterschätzt werden darf und genauso schnell wie nach einem Schlaganfall eine effektive Diagnostik und die Einleitung von entsprechenden Sekundärpräventionsmaßnahmen erfolgen muss. Das Nichterkennen einer TIA bzw. eines drohenden Schlaganfalls bewertete der Gutachter als grob fehlerhaft.

Die Kranken- und Pflegekasse von Frau B. L. meldete bei den Versicherungen der Neurologin und des den Notdienst verrichtenden Arztes Schadenersatzansprüche in Höhe von insg. über 117.000,-Euro an. Da die Versicherungen weder auf die Anspruchsanmeldungen noch auf das medizinische Gutachten reagierten, wurde die gerichtliche Inanspruchnahme erforderlich. Im Dezember 2011 erhob ich für die Kranken- und Pflegekasse Klage beim Landgericht Frankfurt am Main. In der mündlichen Verhandlung unterbreitete das Gericht auf Grundlage des Klagevortrags und des medizinischen Gutachtens einen Vergleichsvorschlag, demzufolge der geltend gemachte Schaden zu 2/3 ersetzt werden sollte. Dieser Vergleichsvorschlag des Gerichts wurde von den Parteien des Rechtsstreits angenommen, sodass meine Mandantinnen insgesamt 78.138,-Euro an Schadenersatz erhielten (LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 08.10.2012, 2-04 O 74/12).