Für immer anders

Wie ein beschnittener Bielefelder leidet

Beschneidung: Ein kleiner Schnitt mit dem Skalpell, der große Folgen haben kann, wie die Schilderung eines Bielefelders zeigt.Von Christian Althoff Bielefeld (WB). 30 Jahre ist es her, dass Sebastian Berger* beschnitten wurde - ein Eingriff, der ihn bis heute belastet. »Ich kann erst seit einem Jahr darüber sprechen, ohne zu weinen«, sagt er.

Das Schicksal des heute 37 -jährigen Bielefelders ist vielleicht nicht exemplarisch. Aber es zeigt, welche Folgen eine Beschneidung im Einzelfall haben kann, auch wenn sie aus vermeintlichen medizinischen Gründen erfolgt ist. »Ich war sechs und sollte eingeschult werden. Die Schulärztin fasste meinen Penis an und sagte, die Vorhaut sei zu eng, ich müsse beschnitten werden«, erzählt Sebastian Berger. Er habe das damals nicht verstanden und sich auch keine Sorgen gemacht. »Ich hatte ja überhaupt keine Probleme mit meinem Glied.«

Erst ein Jahr später kam der Kinderarzt auf den Hinweis der Schulärztin zurück. Sebastian sollte deshalb in den Sommerferien vor dem zweiten Schuljahr in einem Bielefelder Krankenhaus beschnitten werden. »Meine Mutter sagte: Deine Vorhaut funktioniert nicht so wie die von deinem Bruder. Das lassen wir in Ordnung bringen, das ist nicht schlimm.«

Das erste Trauma erlebte der Junge ein paar Tage nach der OP. »Ich musste im Krankenhaus ein Kamillenbad nehmen. Weil mein Schlafanzug nass geworden war, führte mich die Schwester splitternackt in mein Zimmer zurück. Die Leute auf dem Flur lachten. Ich wollte vor Scham im Boden versinken.«

Das zweite Trauma erlebte der Schüler nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. »Ich fragte meine Mutter, wann meine Vorhaut denn wieder nachwachse. Sie sagte: Nie mehr. Da wusste ich: Du bist für immer anders. Seit diesem Tag habe ich mit meinen Eltern nicht mehr über das Thema gesprochen.«

Die derzeitige Beschneidungsdebatte hält Sebastian Berger »für zu intellektuell, zu abgehoben.« Die meisten Leute wüssten nicht, worüber sie sprächen, sagt er. Er habe sich damals mit seinem beschnittenen Glied hässlich und lächerlich gefühlt. »Sie glauben ja nicht, wie schlimm für mich das dritte, sechste und neunte Schuljahr war«, sagt der Bielefelder. Da sei die Klasse jede Woche zum Schwimmunterricht gefahren. »An diesen Tagen bin ich morgens durchgeschwitzt aufgewacht«, erzählt der 3 7 -Jährige. »Mein Ziel war es jedesmal, als erster aus dem Bus zu kommen, um den Spind in der Ecke zu ergattern. Dort konnte ich mich umziehen, ohne mich zeigen zu müssen.« In der Grundschule habe er immer· Angst gehabt, sein Anderssein könne die Runde machen. »Nach der OP hatten mich zwei Klassenkameraden im Krankenhaus besucht. Ich wusste zwar nicht, was die mitbekommen hatten, aber ich war froh, als ich aufs Gymnasium kam und der Kontakt zu den beiden abriss.«

Als er in die Pubertät gekommen sei, seien Mädchen für ihn »der Horror« gewesen, erinnert sich Sebastian Berger. »Ich habe die Beziehungen immer unter einem Vorwand beendet, bevor es zu Intimitäten kam.« Er sei sich verstümmelt vorgekommen und habe sich so nicht zeigen wollen.

Mit 18 Jahren habe er dann seine erste große Liebe kennengelernt »Zitternd und unter Tränen habe ich ihr erzählt, was mit mir los ist.« Seine Freundin habe kein Problem damit gehabt, aber er habe sich weiter unsicher gefühlt.

Bei der Bundeswehr konnte Berger sein Anderssein nicht mehr verbergen. »In einer Gemeinschaftsdusche ist es mit der Intimsphäre vorbei«, erzählt der 37-Jährige. Wenn andere Soldaten über ihn Witze gemacht hätten, habe er mitgelacht. »Ich wollte denen keine Angriffsfläche bieten. Hätten die gewusst, wie mich das trifft, wäre ich für immer ihr Opfer gewesen.«

Bis zu seinem 30. Lebensjahr habe er keine Freundin mehr gehabt, weil er sich gescheut habe, Frauen sein Geschlechtsteil zu erklären. »Irgendwann bin ich im Internet auf Berichte von Männern gestoßen, denen es genauso geht wie mir. Ich habe mich in ihren Schilderungen zu 100 Prozent wiedererkannt und habe weinend vor dem Computer gesessen.«

Seit 2011 ist Sebastian Berger bei einer Psychotherapeutin in Behandlung und spricht dort über sein Leiden. Er ist noch weit davon entfernt, seinen Freundes- und Verwandtenkreis einzuweihen, und wird das vielleicht auch niemals tun. Aber er hat wieder eine Freundin. »Sie versteht mich, und sie steht zu mir«, sagt der 37-Jährige. Er ist verbittert, weil seine Beschneidung, die er Verstümmelung nennt, vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre: »Die Uniklinik Münster hat in einer Studie 107 Jungen mit Vorhautverengung mit Salbe behandelt. Nur zwei von ihnen mussten schließlich doch operiert werden, wobei ihre Vorhaut weitgehend erhalten blieb.«

* Auf Wunsch des Betroffenen wurde sein Name geändert.