Klage wegen Beschneidung

Bielefelder verlangt Schmerzensgeld

Rechtsanwältin Dr. Marion Rosenke aus Halle, hier vor einem Bild in ihrer Kanzlei, hat ihre Doktorarbeit über Genitalverstümmelung bei Mädchen geschrieben. Jetzt befasst sie sich in einem Rechtsstreit erstmals mit der Beschneidung von Jungen.Von Christian Althoff

Bielefeld (WB). Ein Bielefelder fordert 80 000 Euro Schmerzensgeld von einem Krankenhaus. Dort war ihm vor 29 Jahren die Vorhaut abgeschnitten worden - nach Ansicht von Rechtsanwältin Dr. Marion Rosenke »ohne jeden medizinischen Grund«.

Bei dem Bielefelder, der keiner Glaubensrichtung angehört, war bei der Schuleingangsuntersuchung von einer Ärztin eine Vorhautverengung festgestellt worden. Ein Jahr später wurde der Junge im Bielefelder Johannesstift beschnitten. Dr. Rosenke, Fachanwältin für Medizinrecht aus Halle (Kreis Gütersloh): »Mein Mandant empfindet die Beschneidung als Verstümmelung, unter der er seit annähernd 30 Jahren leidet. Dass der Eingriff offenbar völlig überflüssig war, weiß er aber erst seit kurzem. Deshalb führen wir den Rechtsstreit erst jetzt.«Der Bielefelder, der sich für das Aussehen seines Geschlechtsteils schämt und dessen Funktion erheblich eingeschränkt sieht, ist seit einem Jahr bei einer Psychologin in Therapie. Die Expertin riet ihm, sich die Krankenakte von 1983 zu besorgen, um das Trauma aufzuarbeiten. Doch der Inhalt der Patientenakte bewirkte das Gegenteil. Dr. Rosenke: »Aus den Aufzeichnungen ergibt sich, dass der Junge im Alter von sieben Jahren beschnitten wurde, obwohl er überhaupt keine Beschwerden hatte.«

Erwähnt sei lediglich, dass er als Vierjähriger einmal eine Entzündung gehabt habe - mehr nicht. Die Operation selbst wird in den Unterlagen des Krankenhauses an mehreren Stellen als »Palliative Beschneidung« bezeichnet.

»So etwas gibt es aber überhaupt nicht«, sagt Dr. Wolfgang Bühmann aus Westerland, der Sprecher des Berufsverbandes der Deutschen Urologen. Rechtsanwältin Dr. Rosenke: »Ich habe die Klinik gefragt, was mit palliativer Beschneidung gemeint gewesen sein könnte, aber keine Antwort erhalten.«

Heute werden kleine Jungen, die eine Vorhautverengung (Phimose) haben, überhaupt nicht mehr operiert - »es sei denn, sie haben Beschwerden, wie etwa Schmerzen beim Wasserlassen oder eine Entzündung«, sagt Dr. Bühmann. Bei vielen Jungen wachse sich die Vorhautverengung bis zur Pubertät aus, Salben und Dehnversuche könnten in vielen Fällen helfen. Wenn irgendwann doch operiert werden müsse, könne das meistens vorhauterhaltend geschehen.Dr. Marion Rosenke »Natürlich gibt es Millionen beschnittener Juden und Moslems, die überhaupt keine Probleme haben. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sie in entsprechenden Kulturen großgeworden sind.« Ihr Mandant leide jedoch massiv. Die Anwältin, die ihre Doktorabeit über rechtliche Probleme der weiblichen Genitalverstümmelung geschrieben hat, hat sich jetzt in wissenschaftliche Texte zum Thema Jungenbeschneidung eingelesen und begründet die Schmerzensgeldforderung mit dem, was sie erfahren hat: »Der Eingriff führt zu einer Verhornung der Eichel, die ihre Sensibilität verliert und ihr Aussehen verändert. Das Entfernen der Vorhaut bedeutet den Verlust von mindestens 10.000 erogenen Nervenenden.« Der Chirurg habe wissen müssen, dass es kein feststehendes Alter gebe, ab welchem die Vorhaut verschiebbar sein müsse. Die Anwältin sagt, für sie sei die Beschneidung »ein verstümmelnder Eingriff, so etwas wie eine Amputation«.

Ihr Mandant meint, der Chirurg habe damals seine Grundrechte irreparabel verletzt. »Mein Recht auf Unversehrtheit, mein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung - das hat damals offenbar niemanden interessiert.« Er habe Zeit seines Lebens Schwierigkeiten gehabt, Freundschaften mit Frauen zu schließen. »Ich hatte Angst vor Intimitäten.« In den letzten Jahren merke er einen gravierenden Rückgang der Restsensibilität seines Penis'.

Die Versicherung des Krankenhauses bestreitet, dass eine Beschneidung dauerhafte negative Folgen hat. Sie lehnt jedes Schmerzensgeld ab. »Deshalb werden wir klagen«, sagt Dr. Rosenke. Das Johannesstift will sich zu dem Rechtsstreit vorläufig nicht äußern. Man habe noch nicht alle Unterlagen vorliegen, sagte eine Sprecherin.